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«Mir hei die Strass aoui zämä plant»

Fritz Kobi, Mitbegründer des «Berner Modells», erläutert im Interview was die Idee hinter dieser Strassenplanungsphilosophie ist und wo sie bereits erfolgreich angewendet wurde.

Im Zusammenhang mit den Teufner Ortsdurchfahrtsplänen wird häufig das «Berner Modell» zitiert. Was es damit genau auf sich hat und wie und wo es erfolgreich umgesetzt wurde, erzählt Fritz Kobi, ehemaliger Kreisoberingenieur des Kantons Bern und «Vater» des Berner Modells im Interview.

Fritz Kobi, Sie sind Mitbegründer des sogenannten «Berner Modells». Wie würden Sie dieses beschreiben?
Fritz Kobi: Das Berner Modell ist im Grundsatz eine Planungsphilosophie, die Ende der 1980er Jahre entwickelt wurde. Entscheidend ist dabei die Art und Weise, wie man an ein Strassenbau- oder Umgestaltungsprojekt herangeht. Das Modell richtet sich nach dem Angebot, d.h. nach dem vorhandenen Strassenraum und seiner Umgebung. Es basiert auf Bestrebungen, innerhalb dieser Rahmenbedingungen eine verträgliche Lösung für alle Betroffenen zu finden – und nicht nur in erster Linie für die Autos und den ÖV, wie es in den 1960er und 1970er-Jahren der Fall war. Zentral ist das Credo «Koexistenz statt Dominanz im Strassenverkehr». Mit dieser Philosophie werden im Kanton Bern seit nunmehr dreissig Jahren Ortsdurchfahrten saniert und umgestaltet. Entscheidend beim Berner Modell ist das Partizipationsprinzip: Von der ersten Stunde der Planungsphase an, werden Quartiervereine, Gewerbe, Verkehrsteilnehmer und ÖV-Anbieter an einen Tisch geholt und ihre Bedürfnisse und Wünsche evaluiert. Dieses «alle ins Boot holen» ist zwar auf den ersten Blick sehr aufwändig, lohnt sich aber nach meinen Erfahrungen allemal, um gesamtheitliche Verträglichkeiten zu erzielen. Ich habe es mehrmals erlebt, dass sich so ein «Mir hei die Strass aoui zämä plant»-Gefühl entstand.

Ein konkretes Beispiel, wo das Berner Modell angewendet wurde, ist die Seftigenstrasse bei Wabern (6900 Einwohner). Dort teilen sich täglich 20 000 Fahrzeuge, eine Tram-, eine Postauto- und eine Regiobuslinie sowie der Langsamverkehr die Hauptstrasse. Wie funktioniert diese Koexistenz?
Vor der Umgestaltung säumten Lichtsignale die 1-Kilometer lange Strecke. Die Folge waren Rückstaus, lange Wartezeiten für Fussgänger, es hatte keine Radstreifen, die Liegenschaften entlang der Seftigenstrasse wurden vernachlässigt und diverse Ladenlokale standen leer. Seit der Sanierung und Neugestaltung 1997 teilen sich ÖV und Individualverkehr eine Fahrbahn. Dadurch entstand Raum für breite Trottoirs, Radstreifen und einen Mehrzweckstreifen als Querungshilfe für die Fussgänger.

Führt das nicht zu chaotischen Situationen, wenn all diese Verkehrsteilnehmer und Fussgänger auf der selben Strasse ihres Weges gehen wollen?
Es braucht etwas Vorstellungskraft aber ich kann aus meiner über dreissigjährigen Erfahrung als Kreisoberingenieur sagen, dass diese Koexistenz-Strategie funktioniert. Ein wichtiger Punkt ist dabei der ständige Blickkontakt zwischen Verkehrsteilnehmern und Fussgängern. Diese Strasse queren Fussgänger frei, darunter auch Kindergärtler und Schüler einer Gehörlosenschule, ohne Fussgängerstreifen. Die Autos kommen mit geringerem Tempo, werden aber dadurch weniger zum Anhalten gezwungen. Gemäss einer detaillierten Nachstudie haben sich die Stillstandszeiten Richtung Bern von 14.8 Sekunden auf 3.3 reduziert. Stadtauswärts wurde eine Reduktion von 13.7 auf 2.1 Sekunden erzielt.

Und wie arrangiert sich der Individualverkehr mit den Trams, die in einer Richtung alle sechs Minuten die Seftigenstrasse passieren?
Zu Stosszeiten wird der Tramverkehr mittels drei Lichtsignalen gelenkt bzw. der Individualverkehr dosiert, damit der ÖV seine Fahrpläne einhalten kann. In der übrigen Zeit fahren die Autos und Lastwagen den Strassenbahnen hinterher, die dadurch eine Pulk-Funktion inne haben. Die durchschnittliche Fahrzeit für den Individualverkehr hat sich seit der Umgestaltung von 67 Sekunden auf deren 64.5 reduziert. Die Verkehrsströme auf der Seftigenstrasse sind also nachweisbar flüssiger geworden.

Wie sind die Erfahrungswerte bezüglich Einmünden und Abbiegen des Individualverkehrs in die Seitenstrassen? Führt dies nicht zu Rückstaus?
Messungen zeigen, dass die Wartezeiten der Fahrzeuge, die aus dem Quartier in die Seftigenstrasse einmünden wollen, deutlich zurückgegangen sind. Durch die langsamere, stetigere Fahrweise, ist das Einmünden und Abbiegen für den Individualverkehr einfacher und effizienter geworden.

Standen in Wabern auch Alternativen zum realisierten Umgestaltungsprojekt zur Diskussion?
Wie in Teufen wurde auch bei uns Anfang der 1970er-Jahre über eine Tunnelvariante diskutiert. Mit dem Tunnel wäre der Durchgangsverkehr um Wabern herum geleitet worden. Damit konnten sich viele nicht anfreunden. Zudem hätte ein Tunnel nur zu einer Stauverlegung bei den beiden Portalen geführt. Anfangs der 1990er Jahre Hinzu kam in Wabern hinzu, dass damals dringend die Tramgleise und die Strasse saniert werden mussten. Nicht zuletzt war es dieser Zeitdruck, der die Tunnelpläne ziemlich schnell begraben liess. Seither stand dieses Thema nie mehr zur Diskussion.

In Teufen sind zahlreiche Gewerbler skeptisch gegenüber den Doppelspur-Plänen. Wie nehmen Sie die Stimmung in Wabern bei den Detailhändlern entlang der Seftigenstrasse war?
Die Gewerbler wurden von Anfang an in die Projektierungs- und Realisierungsphasen eingebunden. Gespräche mit anderen Detailhändlern, vor allem mit den Zollikofern, vermochten die Gewerbler in Wabern zu beruhigen. In Zollikofen wurde ebenfalls nach dem Berner Modell ein paar Jahre zuvor ein neues Ortsdurchfahrtsprojekt realisiert. Mit den frühzeitigen Gesprächen und der Versicherung, dass nach dem Umbau gleichviele Kundenparkplätze zur Verfügung stehen werden, konnte das Gewerbe überzeugt werden. Für das Gewerbe und auch die Quartierbevölkerung kam deshalb nur die umgesetzte Lösung in Frage. Im Nachgang zeigte sich, dass das befragte Gewerbe die Auswirkungen der neuen Massnahmen auf den Geschäftsgang positiv einschätzte.

Wie wurden in Wabern die Bauphasen geplant?
Im Gegensatz zu Teufen mussten wir damals nicht ein ganzes Bahntrassee aufheben und durch Radstreifen bzw. Trottoirs ersetzen oder Häuser versetzen, sondern «lediglich» die Tramschienen von der Strassenmitte an die Seiten verlegen. Während der Projektierungsphase klärten wir bei allen Bedürfnisgruppen ab, ob sie eine Etappierung oder eine siebenwöchige Totalsperre bevorzugen würden. Vor allem die Ladenbetreiber sprachen sich klar für die Siebenwochen-Variante mit 24 Stunden-Baustellenbetrieb mit einer vorgängigen Vorbereitungszeit aus.

Und wie wurden die täglich 20 000 Autos an der Baustelle vorbei geschleust?
Die Seftigenstrasse war in den Sommerferien auf einer Strecke von einem Kilometer während sieben Wochen komplett gesperrt. Dabei konnten wir auf das grosse Engagement und Wohlwollen der Quartiervereine zählen. Diese informierten im Vorfeld die Anstösser und Kunden über die Beeinträchtigungen und Umleitungen. Und so wurden sämtliche Verkehrsströme in dieser Zeit im Einbahnregime durch die angrenzenden Quartiere gelotst.

Interview: Rosalie Manser